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„Österreichs Wirtschaft braucht Zuwanderung“

Die einfache Rekrutierung von Arbeitskräften aus unseren östlichen Nachbarländern, bürokratisch einfach und niederschwellig, wird in Zukunft an ihr Ende kommen. Österreich muss sich als Ziel von zuwandernden Menschen besser positionieren.

Text: Univ.-Prof. Dr. Rainer Münz

Univ.-Prof. Dr. Rainer Münz

Zur demografischen Gegenwart und Zukunft: Wenn wir uns die europäische Entwicklung anschauen – wir hatten den Babyboom, der noch eine Weile nachgehallt hat, denn die vielen Kinder des Babybooms haben später als Eltern zwar nicht mehr viele Kinder bekommen haben, aber es waren eben sehr viele Eltern. Und seit 25 Jahren wird die Zahl der Geburten jedes Jahr weniger. Zugleich hatten wir lange Zeit wenige Todesfälle – eine Folgewirkung der geringen Kinderzahlern während der wirtschaftlich schwierigen Zeit der 30er Jahre, und es hat auch etwas mit dem 2. Weltkrieg zu tun, als viele Männer starben, auch viele zivile Opfer, es waren überwiegend junge Menschen, die damals zu Tode kamen. Daher hat es bei uns lange Zeit wenig Pensionist:innen gegeben. Und seit dem Jahr 2013 haben wir in Europa mehr Sterbefälle als Geburten. Da klafft eine Lücke von 1,2 Millionen Menschen. Diese Lücke gibt es auch in Österreich, und sie macht sich natürlich lange vor dem Tod bemerkbar, weil die Menschen lange (zu lange) bevor sie sterben, in Pension gehen.

Auf Österreich heruntergebrochen: Im Jahr 2022 sind rund 92.000 Menschen gestorben, nur 82.000 wurden geboren. Da klafft eine Lücke von 10.000 Personen im Jahr, und trotzdem wächst die Einwohnerzahl auch in Österreich, was natürlich etwas mit Zuwanderung zu tun hat. Wir haben seit den 60er Jahren massiv Zuwanderung nach Österreich, zuerst haben wir „Gastarbeiter“ rekrutiert, später gab es Familienzusammenführungen, „Gastarbeiter“ sind echte Einwanderer geworden, haben ihre Frauen und Kinder nachgeholt. Und seit den 90er Jahren gibt es auch große Fluchtwellen nach Österreich. Fast 100.000 bosnische Staatsangehörige wurden bei uns aufgenommen und haben sofort einen temporären Schutz bekommen. Wir hatten große Zuwanderungswellen 2015 – 2016 aus Syrien, Afghanistan und aus dem Irak. Letztes Jahr hatten wir die stärkste Zuwanderung seit dem 2.Weltkrieg, nämlich zusätzlich zur normalen Zuwanderung fast 90.000 Ukrainer:innen

Der Effekt ist, dass die zugewanderte Bevölkerung bzw. die Bevölkerung mit Migrationshintergrund jedes Jahr wächst, und auf der anderen Seite wird die einheimische Bevölkerung immer weniger. Es gibt jedes Jahr am 31. Dezember etwa um 20.000 österreichische Staatsbürger weniger als zu Beginn des Jahres. Die Schrumpfung der einheimischen Bevölkerung wird dadurch beschleunigt, dass wenige Kinder mit österreichischer Staatsbürgerschaft zur Welt kommen und die Menschen, die sterben, überwiegend Österreicher:innen sind und nicht Zugewanderte.

Migration von und nach Österreich

Die Mehrzahl der Zuwandernden nach Österreich kommt aus einem anderen EU-Staat. Und wir haben die Zuwandernden aus Drittstaaten. Letztes Jahr hatten wir, wie gesagt, die stärkste Zuwanderung seit dem 2. Weltkrieg, im Wesentlichen aufgrund der großen Zahl von ukrainischen Staatsangehörigen. Eine größere Zuwanderungswelle war 2015 – 2016 zusätzlich zur normalen Zuwanderung mit vielen Syrern und Afghanen. Auch in 90er Jahren nach der Öffnung der Mauer und infolge der Kriege im damals zerfallenden Jugoslawien hatten wir größere Zuwanderungswellen zu bewältigen. Der Unterschied zu großen Flüchtlingswellen wie 1956 aus Ungarn, 1968 aus der Tschechoslowakei und 1980 aus Polen: Diese Menschen waren ein paar Wochen bei uns und sind dann weitergewandert. Die Ukrainer:innen hingegen, die zu uns kommen, werden vielleicht irgendwann wieder zurück in die Ukraine gehen, aber die, die letztes Jahr gekommen sind, sind überwiegend hier geblieben. Auch von der Syrern und Afghanen, die 2015 – 2016 gekommen sind, ist über die Hälfte noch im Land. 

Neben der Zuwanderung gibt es auch eine Abwanderung aus Österreich. Ungefähr 150.000 Menschen wandern jedes Jahr zu, letztes Jahr waren es – die Ausnahme – 260.000. Etwa 100.000 Menschen wandern jedes Jahr aus Österreich ab, ein beträchtlicher Teil davon sind österreichische Staatsangehörige, dann EU-Ausländer. Drittstaatsangehörige wandern überwiegend nicht ab. 

Wir haben also so etwas wie eine Drehtür-Migration mit der EU: Leute kommen, kommen schnell in den Arbeitsmarkt und gehen wieder weg. Keine Drehtür-Migration haben wir dagegen mit Drittstaaten, denn für eine drittstaatsangehörige Person erlischt die Aufenthaltsberechtigung, wenn sie nicht eingebürgert ist. Wird ein EU-Staatsangehöriger bei uns arbeitslos, sucht er sich eventuell auch woanders einen Job, ein Deutscher zum Beispiel in Deutschland, während ein Drittstaatsangehöriger, wenn er hier den Job verliert, zum Beispiel einer aus dem Kosovo, gar nicht daran denkt, in den Kosovo zurückzugehen und dort nach Arbeit zu suchen. 

Normalerweise bilden Deutsche die größte Zuwanderer-Gruppe bei uns (naturgemäß, weil es für die keine Sprachbarriere gibt). Die zweite große Gruppe sind EU-Ausländer aus östlichen und südöstlichen Staaten Europas. Diese kommen einerseits wegen des Lohnunterschieds, aber auch wegen der geografischen Nähe. Wachsend ist die Zuwanderung aus „anderen“ Drittstaaten, sprich: Wir haben zunehmend auch Asylsuchende etwa tunesischer Herkunft, aus Indien, aus Bangladesch, die es früher in dieser Dimension nicht gab. 

Unsere Gesellschaft wird bunter

Unsere Gesellschaft wird also bunter. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund – entweder im Ausland geboren mit ausländischen Eltern, oder im Inland geboren mit zugewanderten ausländischen Eltern – wird immer größer. Allein in den letzten 12 Jahren ist die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund in Österreich um fast 1 Million größer geworden ist. Zu Jahresbeginn 2023 lebten fast 2,5 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Österreich, davon überwiegend Zuwanderer der 1. Generation, aber auch – in wachsender Zahl  – 600.000 Angehörige der 2. Generation, also in Österreich Geborene, die zwei zugewanderte Elternteile haben. Würde man hier das Kriterium aufweichen und auch Menschen mit hineinnehmen, wo nur 1 Elternteil zugewandert ist, wären wir wahrscheinlich schon bei 3 Millionen. 

Zugewanderte und ihre Kinder, die 2,5 Millionen – wenn wir uns die anschauen, sehen wir, dass 2 Drittel davon ausländische Staatsangehörige und 1 Drittel eingebürgert sind, Und wir sehen, dass bei der 1. Generation Dreiviertel nur eine ausländische Staatsbürgerschaft haben, ein Viertel sind Österreicher:innen. Was aber aus meiner Sicht problematischer ist: Von den in Österreich geborenen, hier aufgewachsenen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen besitzen fast 40 Prozent nur eine ausländische Staatsbürgerschaft – obwohl sie nie in einem anderen Land gelebt haben. 

Die Dynamik dahinter: Die Zahl der ausländischen Staatsangehörigen, die in Österreich leben, hat sich um 870.000 erhöht. Der Anteil der ausländischen Staatsangehörigen in Österreich ist von 11 % auf 19 % gestiegen, der Anteil der im Ausland Geborenen hat sich von 15 % auf 22 % erhöht. Mehr als ein Viertel der österreichischen Bevölkerung hat Migrationshintergrund. 

Zum Arbeitsmarkt: 27 % der auch auf dem Arbeitsmarkt Erwerbstätigen haben einen Migrationshintergrund ganz unterschiedlicher Herkunft, etwa 40 % aus der EU, etwa 60 % aus Nicht-EU-Staaten, Tendenz deutlich ansteigend. Das sind 1,2 Millionen Erwerbstätige. Hinzu kommen noch – für den Arbeitsmarkt ebenfalls relevant – etwa 260.000 Tages-, Wochen- oder Monatspendler. Die Pflegekräfte etwa, die 24-Stunden-Pflege in Österreich machen, sind fast ausschließlich Personen, die keinen Wohnsitz in Österreich haben, ausländische Staatsbürgerinnen, überwiegend Frauen, die eben alle 14 Tage kommen. Im Beherbergung- und Gastgewerbe hat die Hälfte der Beschäftigten und auch mehr Migrationshintergrund. Unternehmensdienstleistungen sind hier die Nr. 2. 

Wir brauchen wahrscheinlich nicht viel mehr Zuwanderung als heute, aber wir brauchen eine Zuwanderung in den Arbeitsmarkt und nicht eine in die Sozialsysteme.

Was auf uns zukommt

Wenn man sich Europa anschaut, sieht man, dass wir sozusagen einen Flickenteppich haben, mit wachsenden und schrumpfenden Regionen nebeneinander. Die wachsenden wachsen überwiegend durch Zuwanderung, Zuwanderung auch von jungen Menschen, deswegen gibt es in Zuwanderungsgebieten immer auch eine wachsende oder zumindest eine stabile Zahl von Geburten. In anderen Gebieten gibt es mehr Sterbefälle als Geburten, und häufig auch in Kombination mit Abwanderung.

Für Österreich, insbesondere für die Branche der Unternehmensdienstleistung wichtig: Hauptherkunftsgebiete, wo in der Vergangenheit EU-Bürger:innen rekrutiert wurden, die nach Österreich gekommen sind (wie gesagt, neben Deutschland sind hier die östlichen und südöstlichen EU-Staaten ein Hauptherkunftsgebiet) sind in einer viel schlechteren demografischen Situation als wir, da es dort eine Kombination aus Abwanderung, keiner Zuwanderung und einem viel schneller wachsenden Geburtendefizit gibt. Die jungen Leute gehen weg und bekommen ihre Kinder bei uns. Das bedeutet im Umkehrschluss: Die einfache Rekrutierung von Arbeitskräften – bürokratisch einfach, niederschwellig – aus unseren östlichen Nachbarländern wird in Zukunft an ihr Ende kommen, weil die demografischen Potenziale in einem Teil der Herkunftsländer erschöpft sind. Weil dort schon so viele Menschen weggegangen sind. 

Die Alterspyramide von heute erlaubt einen guten Blick in die Zukunft: Die Zahl der nachkommenden Generation der Babyboomer – heute im Schulalter – ist in Österreich um 40 % kleiner als die der Babyboomer-Generation, die in Pension geht. Man kann also die Lücke auf dem Arbeitsmarkt schon jetzt sehen. Von diesen Nachkommenden haben überdies etwa 35 bis 40 % Migrationshintergrund. In Wien ist das besonders stark ausgebildet, ähnlich ist die Situation auch in anderen Landeshauptstädten. So viel artificial intelligence kann es gar nicht geben, dass eine um 40 % kleinere Generation die Abtretenden völlig ersetzen kann. Und zum anderen gibt es eine enorme Verschiebung von Jung nach Alt, anno dazumal war das Verhältnis noch 5:1 (5 Junge auf jeden Alten), heute sind wir bei 3:1. 

Müssen lernen, mit der Vielfalt umzugehen

Was bedeuten diese Trends für unsere Gesellschaft, für unsere Arbeitswelt, für die Branche der Unternehmensdienstleister? Das Überleben eines Teils der österreichischen Dienstleister wird davon abhängen, ob wir eine intelligente Zuwanderungspolitik bekommen. Österreich muss als Ziel von zuwandernden Menschen besser positioniert werden, denn es geht darum, dass die Zuwanderung aus anderen EU-Staaten aus den vorher genannten Gründen kleiner wird. Das hat mit Demografie zu tun, aber auch damit, dass das Lohnniveau in unseren östlichen Nachbarländern sich dem unseren annähert. Und es hat natürlich damit zu tun, dass die Konkurrenz größer wird, sprich: auch andere europäische Staaten werden beginnen, proaktiv Migrant:innen anzuwerben. Die Menschen, an denen wir interessiert wären, werden sich stärker aussuchen können, wo sie hingehen, als es bisher der Fall war. Wir brauchen wahrscheinlich nicht viel mehr Zuwanderung als heute, aber wir brauchen eine Zuwanderung in den Arbeitsmarkt und nicht eine in die Sozialsysteme. Das beginnt bei einer erleichterten Ausstellung von Visa. Für Zuwandernde aus Nicht-EU-Staaten ist zunächst einmal die Frage, wie sie überhaupt nach Österreich kommen, sprich:  Gibt es in dem Land ein österreichisches Konsulat? Ist dieses Konsulat an mehr als einem Tag in der Woche geöffnet? Ist es zugänglich oder ist es Hunderte Kilometer entfernt? In einer digitalisierten Welt könnte man auch darüber nachdenken, dass man sich online für ein Visum bewerben kann, statt physisch erscheinen zu müssen. Wie schaut es mit Sprachkenntnissen aus? Könnte man den Menschen ein Visum nicht schon 12 Monate vorher zusichern und ihnen einen Link zu einem Online-Deutschkurs vermitteln? Wie kann man die Erwerbsintegration beschleunigen, wenn die Menschen herkommen? Da geht es zum Beispiel um die Anerkennung von Qualifikationen. Da geht es auch darum zu checken, ob die Leute, wenn nicht Deutsch, dann womöglich Englisch können. Oder ob sie gut programmieren können. Oder ob sie sonst etwas können, das wir dringend brauchen. Es gibt ja eine lange Liste von Mangelberufen. Und wir müssen ein Interesse daran haben, dass die Leute hierbleiben. Deswegen müsste man die extrem restriktive Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft überdenken. Es müsste attraktiver werden, Österreicherin und Österreicher zu werden. Österreich bürgert im Moment im Jahr zwischen 6.000 und 7.000 Menschen ein, das sind nur 0,7 % der anwesenden ausländischen Wohnbevölkerung. Wenn wir die Mühe auf uns nehmen, die Leute auszuwählen und sie hier zu integrieren, sollten wir auch ein Interesse haben, dass sie hierbleiben. Wir müssen auch in der Außenwahrnehmung, in der Sprache, die wir nach außen hin vertreten, differenzierter und einladender werden, wenn wir wollen, dass mehr Menschen zu uns kommen. Wir müssen auch lernen, mit der Vielfalt umzugehen.

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