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„Es bereitet mir wirklich Sorgen…“

Über die Umtriebe hinter den Kulissen der pandemiebedingten Desinfektionsmittel-Knappheit.

Text: Miranda Suchomel (*)

Die gesetzliche Grundlage für das Herstellen und Inverkehrbringen von Desinfektionsmitteln bildet in Europa die EU-Biozidprodukteverordnung bzw. in Österreich die Umsetzung dieser EU-Verordnung durch das Biozidproduktegesetz. Zunächst hat das keine fertigen Produkte betroffen, sondern nur einzelne Wirkstoffe, die zugelassen werden mussten – ein Prozess, der derzeit noch anhält. In einem nächsten Schritt müssen dann auch die fertigen Produkte (bzw. Wirkstoffgemische) zugelassen werden. In Österreich ist für diese Zulassungen das Umweltbundesamt zuständig.

Das heißt, ein Desinfektionsmittel-Hersteller kann sein Produkt nicht einfach in Verkehr bringen, sondern muss es dem Umweltbundesamt melden, welches dann in einem sehr umfangreichen und langwierigen Berichtsverfahren Wirksamkeit – gegen Bakterien, Hefen, Pilze oder auch Viren – und Verträglichkeit, darüber hinaus aber auch Dinge wie Umweltverträglichkeit und Toxizität des Desinfektionsmittels abfragt und überprüft. Eine Meldung und Zulassung beim Umweltbundesamt allein ist aber noch nicht ausreichend, um ein Desinfektionsmittel dann zum Beispiel auch in Einrichtungen des Gesundheitswesens zu vertreiben. Hierfür bedarf es einer Listung im Expertisen-Verzeichnis der Österreichischen Gesellschaft für Hygiene, Mikrobiologie und Präventivmedizin (ÖGHMP) oder in der Desinfektionsmittel-Liste des Verbunds für Angewandte Hygiene (VAH). So viel dazu, was sich in normalen Zeiten hinter den Kulissen abspielt.

Mit Hamsterkäufen fing es an

Dann aber kam es Anfang des Jahres, als sich die Corona-Pandemie abzeichnete, zu einer wirklichen Desinfektionsmittel-Knappheit. Die als erwerbsmäßige Desinfektionsmittel-Hersteller bekannten Firmen waren nicht mehr in der Lage, den Nachlieferungsbedarf zu decken, da sich die Menschen in Hamsterkäufen große Mengen an Desinfektionsmitteln zugelegt haben. Als erstes hat das – bereits Ende Februar – die Händedesinfektionsmittel betroffen, und es gab immer wieder Meldungen, wonach Apotheken die sogenannten WHO-Formulierungen als Händedesinfektionsmittel herstellen würden. Wie konnte das sein?

Es gibt zwei WHO-Formulierungen zur Händedesinfektion, eine Formulierung auf Ethanol-Basis (WHO 1) und eine auf Isopropanol-Basis (WHO 2). Des Weiteren ist Glyzerin als Rückfetter enthalten, was bei Händedesinfektionsmitteln ein Muss ist, da ansonsten die Haut sehr stark austrocknet. Außerdem ist Wasserstoffperoxid enthalten, das entgegen der Meinung vieler hier aber keinerlei Wirkung auf der Haut entfaltet, sondern lediglich zur Inaktivierung allfälliger Bakteriensporen während der Lagerung der Formulierungen dienen soll.

Nun ist es so, dass Ethanol, das als Wirkstoff in der von der WHO vorgeschlagenen Formulierung 1 enthalten ist, sich noch in der Evaluierungsphase des Programms zur Wirkstoffüberprüfung der EU gemäß VO (EU) Nr. 1062/2014 befindet. Deshalb sind Desinfektionsmittel, die diesen Wirkstoff enthalten, noch nicht zulassungspflichtig gemäß Art. 89 der Verordnung (EU) Nr. 528/2012 bzw. können derzeit noch ungehindert in Verkehr gebracht werden. Hingegen enthält die Formulierung 2 der WHO den Wirkstoff Isopropanol, welcher ein bereits genehmigter Wirkstoff ist. Damit unterliegt die WHO Formulierung 2 der Zulassungspflicht gemäß der Biozidprodukteverordnung (BPV). Das bedeutet: So wie jeder, der ein Produkt auf Isopropanol-Basis herstellt, hätte auch jede einzelne Apotheke per Verordnung bzw. Gesetz für die WHO-Formulierung 2 eine Zulassung beim Umweltbundesamt beantragen und ein entsprechendes Dossier abliefern müssen.

Abkürzung „Notfallzulassung“

Hier bestand nun aber die Möglichkeit, beim Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie (BMK) einen Antrag auf eine „Notfallzulassung“ gemäß Art. 55 BPV zu stellen, und zwar „wenn diese Maßnahme zur Bekämpfung einer Gefahr für die öffentliche Gesundheit notwendig ist“, und damit die normale gesetzliche und zeitaufwändige Produktzulassung zu umgehen. Nachdem Mitte März dann der Bescheid für eine solche Notfallzulassung an die Apothekerkammer ergangen ist, dürfen nun alle österreichischen Apotheken, zeitlich beschränkt auf 180 Tage, beide WHO-Formulierungen (WHO 1 und WHO 2) herstellen – und zwar ausschließlich in genau der von der WHO veröffentlichten  Zusammensetzung – und zur Händedesinfektion in Verkehr bringen.

Daraufhin wurde auch die Industrie aktiv bzw. beantragte auch die Wirtschaftskammer Österreich (WKO) für ihre dem § 2 des Wirtschaftskammergesetzes entsprechenden Mitgliedsbetriebe, deren Geschäftstätigkeit sich zulässigerweise auf die Herstellung von Desinfektionsmitteln erstreckt, eine Notfallzulassung – und bekam diese vom BMK auch zugesprochen. Doch hier ist meiner Ansicht nach ein „Fehler“ passiert: Das Bundesministerium hat der Wirtschaftskammer nicht nur – wie für die Apothekerkammer – eine Notfallzulassung für eine bestimmte Rezeptur (wie zum Beispiel die WHO-Formulierungen mit ganz genauen Angaben zu den Konzentrationen (%) der Inhaltsstoffe) ausgesprochen, sondern eine Vielzahl von Wirkstoffen  und Hilfsstoffen zugelassen, und das auch noch in „von“ „bis“ Konzentrationsbereichen, also zum Beispiel 60-80 Prozent Isopropanol, 70-80 Prozent Ethanol etc.  

Es ist also zu befürchten, dass ein Hersteller, der sich nicht tagtäglich mit der Thematik (Herstellung von Desinfektionsmitteln) beschäftigt, bei einer Range von 60 – 80 Prozent Alkohol zwecks Ersparnis zum Beispiel nur 60 Prozent Alkohol nimmt, womit das hergestellte Desinfektionsmittel aber vielleicht gar nicht ausreichend wirksam ist. Kurzum: Es war möglicherweise ein Fehler, ganze Konzentrationsbereiche zuzulassen und nicht nur eine bestimmte, eindeutig ausgewiesene und sicher wirksame Konzentration je Wirkstoff. 

Weiters kann es auch passieren, dass jemand, der sich mit der Thematik nicht so auskennt wie die Firmen, die normalerweise Desinfektionsmittel herstellen, beispielsweise einem Händedesinfektionsmittel auch ein toxisches Vergällungsmittel beimischt – was für die Oberflächendesinfektion „egal“ wäre, für die Anwendung auf der Haut aber ganz sicher nicht. 

Nur ein Fehler?

Dann passierte in meinen Augen aber noch ein weiterer Fehler – einer, von dem ich kaum glauben kann, dass er völlig unabsichtlich passiert ist: Sobald die Wirtschaftskammer besagte Notzulassung – eigentlich für ihre Paragraph-2-Betriebe – erwirkt hatte, schickte sie an ALLE ihre Mitgliedsbetriebe ein Schreiben „Ich möchte Desinfektionsmittel vermarkten. Darf ich das?“. Aufgrund des Passus „Bis 31.8.2020 können alle WKO-Mitgliedsunternehmen in den Genuss der Notfallzulassung kommen“ stellte dieses Schreiben mehr oder weniger einen Freibrief für ALLE WKO-Mitgliedsbetriebe dar, Desinfektionsmittel herzustellen und in Verkehr zu bringen! 

Daraufhin haben natürlich nicht nur die per ministeriellem Bescheid in Frage kommenden Betriebe Desinfektionsmittel herstellen und verkaufen wollen, sondern auch Einzelpersonen und Firmen, die sich damit absolut nicht auskennen. Draufgekommen bin ich deshalb, weil sich bei mir Mitte März schlagartig Anfragen gehäuft haben von Firmen, die wissen wollten, wie man am besten ein Desinfektionsmittel herstellt. Mir wurde dann auch das oben genannte Schreiben der WKO (das zudem auf der Homepage zu finden war) zugespielt, das umgehend an das zuständige Ministerium und an das Umweltbundesamt weitergeleitet wurde, wo man auch sofort erkannte, dass die Wirtschaftskammer hier eindeutig nicht im ursprünglichen Sinn des Notzulassungs-“Erfinders“ gehandelt hatte. 

Die WKO ruderte natürlich sofort zurück und veröffentlichte schon am nächsten Tag eine neue Version des Schreibens an ihre Mitgliedsbetriebe, diesmal mit dem Passus „Bis 31.8.2020 können alle WKO-Mitgliedsunternehmen, deren Geschäftstätigkeit sich zulässigerweise auf die Herstellung von Desinfektionsmitteln erstreckt (siehe unten „Gewerberechtliche Überlegungen“), in den Genuss der Notfallzulassung kommen“. Wobei meines Erachtens der Verweis auf die „Gewerberechtlichen Überlegungen“ und die dort gemachten Angaben leider wiederum sehr viel Spielraum offen lassen.

Hier riechen leider viele ein Geschäft

Die Idee hinter diesen Notzulassungen war es, Österreich aus dieser, aufgrund der Corona-Pandemie herrschenden Desinfektionsmittel-Knappheit herauszuhelfen. Und die Chemie-Inspektoren hätten dieses Mangels wegen denn auch „stillgehalten“. Aber dadurch, dass leider derart übers Ziel hinausgeschossen wurde und wir keinen Ein- oder Überblick mehr haben, wer was macht, „panscht“, herstellt, in Verkehr bringt, müssen die Chemie-Inspektoren nun doch ausrücken, um das zu kontrollieren und notfalls zu unterbinden. Zumal in der Tat auch gefälschte Zertifikate und Gutachten im Umlauf sind, nicht nur aus Österreich, sondern auch aus Deutschland.

Es ist jedenfalls im Moment alles Mögliche am Markt, das sich Desinfektionsmittel nennt. Leider ist das Ganze nun auch noch ins Gesundheitswesen hineingeschwappt. Ehrlich gesagt, ist es mir nicht so wichtig, ob ein Desinfektionsmittel, das in einem Bürogebäude oder in einem Fitnesscenter verwendet wird, auch sicher wirkt, da ich es dort ohnehin für entbehrlich und unnötig erachte. Aber im Spital sowie in Alten- und Pflegeheimen ist es definitiv nicht egal und mitunter sogar brandgefährlich, wenn die Desinfektionsmittel nicht sicher wirken! Und diese Situation haben wir jetzt. 

Nun – nach 180 Tagen endet die Gültigkeit all dieser Notzulassungen, und ich bin recht überzeugt, dass es keine weiteren Notzulassungen brauchen und geben wird. Danach sollten also alle derzeit unter dem „Deckmäntelchen“ Notzulassung hergestellten und vertriebenen Desinfektionsmittel auch wieder verschwinden bzw. muss dann wieder jede Person, jede Firma, jede Apotheke den offiziellen Weg für eine Zulassung ihres Desinfektionsmittels gehen, eine Anfrage an das Umweltbundesamt richten und ein kosten- und zeitintensives Zulassungsverfahren über sich ergehen lassen. 

Leider halte ich es aber für möglich und wahrscheinlich, dass auch über die 180 Tage hinaus da oder dort unbedarft „weitergepanscht“ wird. Es bereitet mir wirklich Sorgen, dass Händedesinfektionsmittel im Umlauf sind, welche die Haut schädigen oder überhaupt toxisch sind, weil sie zum Beispiel (falsch) vergällt sind, oder dass Chemie mit zu wenig Wirkstoff in Umlauf ist, die somit nicht sicher wirkt, oder dass Alkohol mit zu geringer Reinheit verwendet wird und der Stoffe enthält, die zum Beispiel als karzinogen eingestuft sind etc. – Desinfektionschemie von Firmen, die weder das Know how dazu noch eine Zulassung dafür haben. Hier riechen leider viele ein Geschäft, wo es doch eigentlich um die Gesundheit von Menschen gehen sollte.


(*) Prof. Priv.-Doz. Dipl.-Ing. Dr. Miranda Suchomel ist Hygienikerin und Mikrobiologin und leitet die Medizinisch-technische Hygiene am Institut für Hygiene und Angewandte Immunologie der Medizinischen Universität Wien


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